Kolumne

Wir mögen Bücher und Papier, deswegen gibt es unser Programm auch als Heft. Und in jedem Heft gibt es ein Editorial der Literaturhausleiterin Kathrin Dittmer. Das wollen wir auch online niemandem vorenthalten!

Editorial April | Mai | Juni 2024

Für Demokratie

Mein erster Lateinlehrer war auch mein Geschichtslehrer und ein sogenannter weißer Jahrgang: Zu jung, um im II. Weltkrieg Soldat sein zu müssen, zu alt für die Bundeswehr bei Einführung der Wehrpflicht. Es war 1975 und wir langweilten uns mit De Bello Gallico, lernten etwas über Imperialismus und bei mir ist hauptsächlich hängengeblieben, dass der Tatsachenbericht eines Kriegsherren eine heikle und politische Angelegenheit ist. In Griechenland und Portugal waren die Diktaturen am Ende, Franco lebte noch, das Wort dux übersetzten wir mit Feldherr, denn, so sagte unser Lehrer, „einen Führer hatten wir schon und wollen ihn nicht wieder.“ Vor jeder Geschichtsstunde ließ er uns im Chor den gleichen Satz sprechen: „Die Demokratie ist eine schlechte Gesellschaftsform, aber es gibt keine bessere.“

Mein zweiter Lateinlehrer war ein herzensguter Mann und schwerer Alkoholiker, der uns staubtrocken Satz für Satz Sallust übersetzen ließ, sich aber selbst mit der Verschwörung des Catilina so langweilte, dass er jede Zeile, die er aufrief, auch gleich selbst übersetzte, weil das schneller ging. Das ermöglichte mir, sehr still dabei zu sitzen und unterm Pult Homage to Catalonia von George Orwell zu lesen. Von Orwells Schilderung des Spanischen Bürgerkriegs ist bei mir hauptsächlich hängengeblieben, dass die Kommunisten auch kein Talent zur Demokratie hatten. Mein zweiter Lateinlehrer tat so, als bemerke er nicht, dass ich unterm Tisch ein Buch las. Er hatte Stalingrad überlebt.

Es waren immer noch die Siebziger und in unserer Straße gab es immer noch Gründerzeithäuser ohne Dachstuhl. Diese Dächer waren mit Teerpappe gedeckt und die Frauen von gegenüber hängten ihre Wäsche an Leinen zwischen den Schornsteinen auf. Zwei Straßen weiter gab es ein Grundstück, das wir Schrottplatz nannten. Alles war voller Scherben: Ein wilder Müllplatz auf dem zwei kaputte Autos vor sich hin rotteten. Dort wuchsen Heckenrosen und wir brachen trotz starker Stacheln welche für unsere Mutter, die aber nicht wissen durfte, wo wir gewesen waren, denn sie nannte unseren Schrottspielplatz Trümmergrundstück, mutmaßte Blindgänger und hatte uns verboten, dort hinzugehen.

Es waren nun schon die Achtziger. Es gab immer noch Kunstfaserbettwäsche und Prilblumen, immer mehr Verpackungen aus Plastik und das Wort Baracke war immer noch geläufig. Der Städtebau dachte in Zonen, bebaute die letzten Trümmergrundstücke mit Betonburgen und schickte die Fußgänger durch Tunnel unter die Erde. Sie kamen aber scharenweise wieder hoch, um gegen Mittelstreckenraketen und Atomkraft zu demonstrieren. Oben fuhren die Autos. Die Parklücken wurden weniger und ich versuchte, Paul Virilio zu lesen, allerdings nicht im Lateinunterricht. Das große Latinum hatte ich bereits in der Tasche und habe es daraus nicht wieder vorgeholt. Hauptsächlich hängengeblieben ist bei mir, dass die Demokratie eine gute Sache ist und es jedenfalls keine bessere gibt. Der Jugoslawienkrieg sollte noch kommen.

Kann man gegen den Hass demonstrieren? Wäre es nicht so, als ob man gegen Dummheit auf die Straße ginge? Selbst ziemlich dumm? Wäre es nicht schlauer, für etwas zu sein, das man auch wirklich fordern kann – politisch, gesellschaftlich? Helfen Lichterketten einem guten Zuwanderungsgesetz auf den Weg? Helfen Demos gegen Populismus?

Nein, aber sich gegen den Hass auszusprechen, heißt, einen zivilen, öffentlichen Diskurs beizubehalten. Den haben wir nämlich noch. Übrigens empfehlen Sprachforscher:innen - genau wie führende Literaturhäuser - auch im Alltag mit Sprache gut umzugehen. Wer sich daran gewöhnt, dumme und gemeine Ausdrücke zu benutzen, wird auch dumm und gemein. Bleiben wir klüger!

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Hasenrein eingemiezelt
Kolumnen von Kathrin Dittmer.
Für alle, die wissen wollen, warum das Gehirn die eigentliche Problemzone ist, was Weltanschauungen und Küchenmaschinen gemeinsam haben und ob Molly der Hund tatsächlich Flöte spielen konnte.
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