Kolumne

Wir mögen Bücher und Papier, deswegen gibt es unser Programm auch als Heft. Und in jedem Heft gibt es ein Editorial der Literaturhausleiterin Kathrin Dittmer. Das wollen wir auch online niemandem vorenthalten!

Editorial August | September | Oktober 2024

Für Demokratie II

Irgendwann hielt mir im Frühjahr auf dem Wochenmarkt eine Frau ein kleines Flugblatt entgegen. Es ginge um ein loses Bündnis gegen Rechtspopulismus, für alle, denen Demokratie wichtig sei. Ich kam mit ihr ins Gespräch. Beide fragten wir uns besorgt, wo eigentlich all diese Menschen herkämen, die sich jetzt offen gegen so vieles wenden, das wir für demokratischen Konsens gehalten hatten. Lassen Krieg, Ruin und Gewaltherrschaft immer ihr grauses Erbe aus dem Verborgenen treten, wenn keiner mehr da ist, der das Elend noch persönlich bezeugen kann? Und wenn es ein Erbe ist: Wo hatten wir zwei, mittlerweile ergrauten Frauen, eigentlich unsere politische Überzeugung her?

Als ich mir zuhause das Blatt genauer anschaute, sah ich als Verantwortlichen den VVN, den Verband der Verfolgten des Naziregimes. Ich hatte gedacht, dass es den auch gar nicht mehr gäbe. Eine meiner Großmütter war da Mitglied. In den Vertriebenenverbänden ihrer Heimat Schlesien fand sie sich nicht wieder. Zeit ihres Lebens sprach sie davon, 1946 mit ihren Kindern ausgewiesen worden zu sein. Vor dem Ungeheuerlichen der Gräuel mochte sie über das vielleicht letzte Unglück in ihrem Leben, den Heimatverlust, nicht so lärmen. Sie las Joseph Roth und Manès Sperber, merkwürdigerweise auch die erbaulichen Geschichten des heute kaum noch erinnerten Karl Heinrich Waggerl, der eigentlich politisch ziemlich belastet war. Ich habe aus ihrem Nachlass „Wie eine Träne im Ozean“, den großen Roman um die Auseinandersetzung mit Kommunismus und Faschismus, behalten und ein abgegriffenes Weihnachtsbuch von Waggerl, das ich zum Advent immer bei Oma angeschaut hatte. Zwar hatte ich mir selbst verordnet, meine Büchermengen nicht zu mehren, doch in der Erinnerung sehe ich Oma immer mit der Sperber-Trilogie auf ihrer Chaise liegen. Das Buch konnte ich nicht weggeben.

Aber prägt die Familiengeschichte so, dass man immer irgendwo in der politischen Nähe landet? Das wäre im Blick auf die deutsche Geschichte verhängnisvoll. Es gibt natürlich ganze Dynastien von Sozialdemokraten und Unionsanhängern. Aber wird irgendwer deutschnational, weil er sich vom liebevollen Opa auch die Gesinnung und nicht nur das Ohrenwackeln abschaut, wenn die Kathastrophe nur lange genug her ist? Und vor allem: In welcher Familie gibt es keine Brüche und Verwerfungen? War nicht zumindest ein Bruder meines widerständigen Großvaters ein in der Wolle gefärbter Nazi?

Wenn man denn erbt, erbt man alles. Und niemals erbt man Heldengeschichten. Auch deren größter Teil besteht aus nur Elend, Verlust und Zerstörung. Niemand kann sich Helden wünschen. Das lässt sich nachlesen. Ob bei Grimmelshausen oder Kehlmann, Nöstlinger oder Staniši?, bei Stefan Zweig oder Herta Müller – die Liste lässt sich lang fortsetzen.

„Wie spät ist es?“, fragte Oma mein noch sehr junges Ich, das in der Frühlingssonne auf ihrem Wohnzimmerteppich saß und still die Rudimente eines Holzbauernhofes ordnete. Ein Rabe war dabei, viel zu groß für den winzigen Bauern, die Kühe und sein Häuschen. Er kippte immer wieder vom Zaunpfosten. Ich balancierte ihn immer wieder nur für einen Moment aus, während Oma auf der Chaise lag. „Was liest Du da?“, fragte ich. „Nun ja“, sagte Oma, und las mir den Titel vor, den ich schon wusste. „Und wovon handelt es?“ „Ach, von allem möglichen. Wie es früher war.“ „Und wie war es früher“? fragte ich. „Schlimm.“ sagte Oma. „Und wieso liest Du es?“ „Es ist hochinteressant“, sagte Oma, klappte das Buch zu und setzte sich auf. „Es geht um Patrioten und Idioten.“ Sie hangelte nach ihren Latschen. „Natürlich auch um tragisch Gescheiterte.“ Oma schickte mich in die Küche nach Schokolade. Es lag immer ein Stapel davon unten links im Küchenschrank. Unfasslich viel und ich durfte uns eine aussuchen.

dit

 

Im Buchhandel erhältlich:

Hasenrein eingemiezelt
Kolumnen von Kathrin Dittmer.
Für alle, die wissen wollen, warum das Gehirn die eigentliche Problemzone ist, was Weltanschauungen und Küchenmaschinen gemeinsam haben und ob Molly der Hund tatsächlich Flöte spielen konnte.
» zuKlampen